Andrea Greilinger

Greilinger, Andrea / Zwick, Thomas (2022): „Ghosting“ im Handwerk – Warum Lehrlinge nicht zum Ausbildungsbeginn erscheinen. ZfKE–Zeitschrift für KMU und Entrepreneurship, 70(3-4), 123-149. https://doi.org/10.3790/zfke.70.3-4.123

Keywords: Ghosting, Ausbildungsbeginn, Fachkräfte

„Ghosting“ im Handwerk – Warum Lehrlinge nicht zum Ausbildungsbeginn erscheinen

Andrea Greilinger und Thomas Zwick

2022

Zusammenfassung

Das Risiko eines Untertauchens von Bewerber*innen während des Bewerbungsprozesses treibt immer mehr Unternehmen um. Im Wall Street Journal wird davon berichtet, dass dieses Verhalten aktuell massiver denn je auftritt: “Add another headscratching new feature to the postCovid employment landscape: A job isn’t filled until the new hire actually shows up for work” (Cutter et al. 2022). Entsprechend deren Recherchen berichten Unternehmen davon, dass ca. 20 Prozent der neuen Mitarbeiter nicht zum Arbeitsbeginn erscheinen. “Candidates have so many options in this market that typical professional etiquette is being ignored” (Cutter et al. 2022).

Auch in Deutschland ist dieses Phänomen nicht neu und laut Experten immer häufiger anzutreffen (Wolf 2021) selbst bereits im Rahmen von Ausbildungsverhältnissen. Das in der angelsächsischen Welt als „Ghosting“ oder „nocall no show“ bezeichnete Verhalten ist für ausbildende Betriebe besonders kostspielig, da es nicht nur unvorhergesehenes Verhalten während des Bewerbungsprozesses betrifft, sondern potenzielle Auszubildende auch trotz Abschluss eines Ausbildungsvertrags bei Ausbildungsbeginn nicht erscheinen, ohne dies vorher anzukündigen. Da das Ausbildungsjahr zu diesem Zeitpunkt gerade beginnt, macht es die fehlende Absage oftmals unmöglich, eine adäquate Neubesetzung zu finden.

Hierzulande gibt es bislang praktisch keine empirische Evidenz über dieses Phänomen. Die vom LudwigFröhlerInstitut durchgeführte Studie untersucht deshalb erstmals auf Basis von prozessproduzierten Daten zu Ausbildungsverhältnissen aus der Lehrlingsrolle der Handwerkskammer der Pfalz im Zeitraum 2015 bis 2017, welche Bewerber*innengruppen und welche Handwerksbetriebstypen besonders stark von Ghosting betroffen sind. Hierbei werden die individuellen (z. B. Geschlecht, Alter, Schulbildung, Nationalität), betrieblichen (z. B. Sektor, Größe) und beruflichen (z. B. Entlohnung, Ausbildungsdauer) Charakteristiken in einem Vergleich der nicht erscheinenden Auszubildenden mit den erfolgreich die Ausbildung abschließenden Kolleg*innen einbezogen. Der Beitrag zeigt erstmals das Ausmaß des Problems für Handwerksbetriebe, argumentiert auf Basis theoretischer Überlegungen und der empirischen Analyse, welche Gründe für Ghosting verantwortlich sein könnten und diskutiert anschließend, welche Maßnahmen Betriebe dagegen ergreifen können.

Mit zwei bis drei Prozent der Neuabschlüsse ist das GhostingProblem im Vergleich zu regulären Ausbildungsvertragslösungen, die im Handwerk bei ca. 35 Prozent liegen (BIBB 2021), gering. Allerdings zeigen die Analysen des Datensatzes, dass knapp fünf Prozent der Unternehmen, die von Ghosting betroffen sind, gleichzeitig zum ersten Mal ausbilden. Zudem verlieren 40 Prozent der von Nichtantritten betroffenen Unternehmen dadurch ihren einzigen Auszubildenden. In den Daten findet sich des Weiteren, dass Ghosting u. a. verstärkt bei Kleinstbetrieben mit bis zu 9 Mitarbeitern auftritt. Hierbei handelt es sich also genau um jene Gruppe, die lt. BIBB im Hinblick auf die Ausbildungsbetriebsquote im Vergleich der Jahre 2007 bis 2020 besonders rückläufig ist (West: 6,6 Prozentpunkte; Ost: 4,8 Prozentpunkte) (BIBB 2022). Insgesamt ist anzunehmen, dass Ghosting mit einer starken emotionalen Involviertheit der Personalverantwortlichen einhergeht und eine zukünftige Ausbildungsbeteiligung dieser Betriebe dadurch noch stärker gefährdet wird. Weiterhin tritt Ghosting im Datensatz bei Betrieben auf, die mit 4,4 „regulären“ bereits überdurchschnittlich viele Vertragslösungen erleben. Die insgesamt stärkere Betroffenheit mit schwierig verlaufenden Ausbildungsverhältnissen in Kombination mit Ghosting sehen wir als kritisch und vermuten, dass dies schließlich den Ausschlag geben könnte, sich nicht weiter an der Ausbildung zu beteiligen.

Die Studie liefert viele Hinweise für Gründe von Ghosting. Hinsichtlich der Bewerbercharakteristika tritt Ghosting mit einer höheren Wahrscheinlichkeit bei älteren Bewerbern mit keinem bzw. niedrigerem Schulabschluss sowie bei Bewerbern mit nichtdeutscher Staatsbürgerschaft auf. Die individuellen Eigenschaften derjenigen, die ohne Erklärung nicht zur Ausbildung erscheinen, sind dabei sehr ähnlich zu denjenigen, die die Ausbildung nach ihrem Antritt abbrechen. Der Abbruch der Ausbildung erfolgt meist schnell nach Ausbildungsbeginn und wird überwiegend von den Auszubildenden selbst initiiert. Somit können Ausbildungsbetriebe zur Verhinderung von Ghosting und regulären Vertragslösungen dieselben Maßnahmen einsetzen. Eine eingehende Prüfung der Bewerbungsunterlagen z. B. mit Blick auf die besuchte Schulart, die schulischen Leistungen oder berufliche Zwischenstationen bei älteren Bewerbern sind unabdingbar. Ein intensives Kennenlernen über ein Praktikum im Vorfeld der Ausbildung wird zudem empfohlen, da es, wie der Datensatz deskriptiv zeigt, nach Ghosting deutlich häufiger als bei regulären Vertragslösungen zu Berufswechseln innerhalb des Handwerks kommt.

Wir finden darüber hinaus, dass das Lebensmittelgewerbe, das Gesundheitsgewerbe sowie die Handwerke für den privaten Bedarf seltener von Ghosting betroffen sind. Das führt zu der Schlussfolgerung, dass Ausbildungsunternehmen mit eher unbeliebten Ausbildungsplätzen / Engpassberufen davon ausgehen können, dass sich Interessenten im Vorfeld intensiver mit dem Beruf auseinandergesetzt und geprüft haben, ob dieser mit den Wünschen, Bedürfnissen und Interessen übereinstimmt. Trotzdem sollten auch diese Sektoren verstärkt Praktika anbieten, damit den Bewerbern genau dieses Vorgehen ermöglicht wird. Wahrgenommene Unattraktivität von Ausbildungsunternehmen scheint ein weiterer Grund von Ghosting zu sein. Bei den Analysen stellte sich heraus, dass v. a. kleinere Unternehmen mit bis zu 9 Mitarbeitern häufiger von Ghosting betroffen sind. Kleine Unternehmen sollten deshalb im Rahmen ihrer Möglichkeiten Azubimarketing betreiben und Schüler v. a. auf die Vorzüge einer Ausbildung in kleinen Unternehmen (schnellere Übernahme von verantwortungsvollen Tätigkeiten, Einsatz für ein größeres Spektrum an Tätigkeiten, familiäre Arbeitsbedingungen) hinweisen. Während überdurchschnittliche Arbeitszeiten während der Ausbildung nicht mit einem verstärkten Ghosting-Vorkommen in Verbindung gebracht werden können, befeuert eine im Vergleich zur restlichen Berufsgruppe geringere Entlohnung als der Durchschnitt des Analysezeitraums das Auftreten von Ghosting. Ein respektloser oder opportunistischer Umgang des Arbeitgebers mit Mitarbeitern könnte Ghosting der Bewerber als Reaktion auslösen. Wenn Bewerber nicht das Gefühl haben, vom Unternehmen mit (finanzieller) Wertschätzung behandelt zu werden oder wenn sich herumgesprochen hat, dass das Unternehmen mit Bewerbern nicht fair und offen kommuniziert, könnten Bewerber sich dazu hinreißen lassen, sich negativ reziprok zu verhalten und ebenfalls nicht offen zu kommunizieren.

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